Postsowjetische Migration in Deutschland
Beltz-Juventa
2020
ISBN:
978-3-7799-3913-9
Seiten:
246
20.0
 €

Postsowjetische Migration in Deutschland

Jannis Panagiotidis

Rezensiert von Tatjana Kohler

Sechs Jahre lang hatte der Historiker Jannis Panagiotidis eine in Deutschland einmalige Juniorprofessur inne: "Migration und Integration der Russlanddeutschen" (Universität Osnabrück). Ende 2020 zog der gebürtige Korbacher (Hessen) Bilanz und legte ein Grundlagenwerk zur postsowjetischen Migration in Deutschland vor.

Entstehungshintergrund

Im Sommer 2013 jährte sich zum 250. Mal das Einladungsmanifest von Zarin Katharina II. und damit der Beginn der "russlanddeutschen Geschichte"[1]. Aus diesem Anlass sowie unter Berufung auf den Kulturparagraphen 96 im Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG 1953) schrieb die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) Monika Grütters eine Juniorprofessur zum Thema "Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen" aus.

Den Zuschlag erhielt das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück und besetzte die Stelle mit Jannis Panagiotidis (2014-2020)[2]. Zuvor ist der Historiker vom Europäischen Hochschulinstitut (EUI) in Florenz mit einer Arbeit zur Geschichte der ko-ethnischen Migration in Israel und in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1948 und 1992 promoviert worden.[3] Nach diesem Vorbild ist auch seine im November 2020 bei Beltz-Juventa veröffentlichte Vergleichsstudie zur postsowjetischen Migration konzipiert.

Den Begriff der "postsowjetischen Migranten" schlug Panagiotidis im Frühjahr 2017 vor: als alternative Sammelbezeichnung zu "russischsprachigen" Bundesbürgern, wie deutsche und russische Medien diese heterogene Bevölkerungsgruppe noch ein Jahr nach dem "Fall Lisa"[4] in völliger Verkennung soziologischer Tatsachen wie auch ideologischer Implikationen pauschal titulierten.[5] Unter "postsowjetischen Migranten" sind (wertfrei) die ca. 3 Millionen Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund aus der ehemaligen UdSSR zu verstehen. Deren zahlenmäßig wichtigsten Vertreter – auf denen auch der Fokus dieses Einführungswerks liegt – sind die russlanddeutschen Spät-/Aussiedler sowie die jüdischen Kontingentflüchtlinge.

Freilich unterscheiden sich die Zuwanderergruppen nach ihrem jeweiligen Rechtsstatus und den damit verbundenen Bleibeperspektiven. Allerdings diene der Begriff "postsowjetisch" nicht etwa der Nivellierung historisch-kultureller Unterschiede, sondern sei eine Analysekategorie zur Beschreibung "strukturell ähnlicher Erfahrungen, von der Existenz als Diasporaminoritäten in der Sowjetunion über die Migration nach Deutschland durch ein identitätsbasiertes Aufnahmeregime bis zur Infragestellung der Legitimität ihrer zugeschriebenen Identität durch die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft" (S. 223).

Werkinhalt

Die acht Buchkapitel lassen sich paarweise jeweils einem Oberthema zuordnen: Auswanderung und Aufnahme, Aufgehen in der Gesellschaft, Fremd- und Selbstwahrnehmung und schließlich Leben und leben lassen.

Auswanderung und Aufnahme

Das erste Kapitel widmet sich dem sowjetischen Jahrhundert. Es beschreibt die ambivalente Existenz zwischen Anpassung und Diskriminierungserfahrungen, welche die Emigration von Deutschen und Juden aus der Sowjetunion im Zuge der Perestroika zu einer Massenbewegung anwachsen ließ.

Das zweite Kapitel setzt sich mit dem bundesrepublikanischen Aufnahme- und Integrationsregime für beide Gruppen auseinander. Ihre "Privilegierung" im Vergleich zu anderen Migranten hatte in beiden Fällen eine historische Wiedergutmachungsfunktion und bestand aus der "rechtlich gesicherten Aufnahme bei klarer Bleibeperspektive" (S. 79).

Aufgehen in der Gesellschaft

Das dritte Kapitel beleuchtet die sozioökonomische Integration. Einerseits habe die unzureichende Anerkennung von Bildungsabschlüssen zu einem Prestigeverlust sowie prekären Arbeitsverhältnissen in breiten Teilen beider Bevölkerungsgruppen geführt. Andererseits zeige sich – gemessen am Bundesdurchschnitt – eine positive Bilanz mit relativ geringer Erwerbslosenquote, meist mittelständischen Haushaltseinkommen und dem rückläufigen Bezug von Transferleistungen. Allerdings deute sich mit der wachsenden Altersarmut ein neuartiger Verteilungskampf an.[6]

Das vierte Kapitel skizziert die räumliche Verteilung der postsowjetischen Migranten. Bestimmungen zu Wohnortbindungen und das Verteilungsregime des "Königsteiner Schlüssels" sollten verhindern, dass sich an bestimmten Orten hohe Konzentrationen vieler Migranten bilden. Doch ist das Ergebnis davon gerade mit Blick auf die heutige Integrationspolitik relevant: Je höher der Bevölkerungsanteil von Zuwanderern war, desto geringer wurde ihre lokale Konzentration. Umgekehrt führte ein niedriger Bevölkerungsanteil zu einer höheren Konzentration (S. 225). Mit anderen Worten: Sobald eine Bevölkerungsgruppe in eine Minderheitenposition gebracht wird, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich wie eine Minderheit verhält und von der Umwelt abgrenzt, beispielsweise durch die Wahl des Wohnortes in regelrechten "Aussiedlerbezirken".

Fremd- und Selbstwahrnehmung

Das fünfte Kapitel behandelt den Sprachgebrauch, die Identifikation und die Namensgebung. Demnach war es vor allem der öffentliche Gebrauch der russischen Sprache, der Deutsche und Juden aus der Sowjetunion in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Bundesrepublik zu "Russen" homogenisieren ließ. Die Realität ist wie immer komplex und so finden sich in unterschiedlichsten Studien vielfältige Formen der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Selbstidentifikation. Auch die Namensvergabe bei Neugeborenen orientiere sich nun am buntgemischten Bundesdurchschnitt.

Das sechste Kapitel behandelt Fremdwahrnehmungen, Vorurteile und Stereotype. Jegliche Ressentiments seien dem Umstand geschuldet, dass die Idealbilder mit der sozialen Realität auseinanderklafften. Anstatt die auf postsowjetische Migranten projizierten Erwartungshaltungen zu erfüllen, seien sie in der öffentlichen Wahrnehmung nicht "deutsch/jüdisch genug" gewesen, sondern "zu russisch/sowjetisch".

Leben und leben lassen

Das siebte Kapitel nähert sich den politischen Einstellungen der postsowjetischen Migranten. Der Schwerpunkt liegt auf den Russlanddeutschen, da zum Wahlverhalten jüdischer Kontingentflüchtlinge bislang keine expliziten Daten vorliegen. So konnte das Stereotyp von "den" Russlanddeutschen als Putin-treuen, AfD-wählenden Spätaussiedlern zwar glaubhaft entkräftet werden: Einerseits treten "long-distance" Patriotismen eher bei Menschen auf, die Russland bzw. den postsowjetischen Staaten nicht aktiv den Rücken gekehrt haben, sondern "im engeren oder weiteren Sinne 'mitgenommen'" wurden (S.164), und andererseits lagen im insgesamt diversifizierten Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017 die Zustimmungswerte von Russlanddeutschen für die CDU/CSU, gefolgt von der Linkspartei deutlich höher als für die AfD (S.166) - hier betont Panagiotidis "die strukturelle Ähnlichkeit der postsowjetischen Stimmenverteilung zu jener in den Neuen Bundesländern" (S.167).

Doch basierend auf 23 Lokalstudien aus 17 west- und 6 ostdeutschen Städten, wo die überdurchschnittliche Präsenz von postsowjetischen Migranten mit überdurchschnittlichen AfD-Ergebnissen korreliert (ein Näherungswert, wodurch aber nichts über das Wahlverhalten jedweder Gruppen von Stadtteilbewohnern gesagt ist), sticht eine These heraus, deren Formulierung zu Missinterpretationen einlädt oder aber die Bedeutung ethnischer Trennlinien bzw. vom "postsozialistischen Komplex" (S.171) in den Mittelpunkt zukünftiger Forschung rückt: "Die Eigenschaft als Russlanddeutscher ist ein statistisch signifikanter Faktor, der die Wahrscheinlichkeit, rechtspopulistisch zu wählen, erhöht, und zwar unabhängig von sozioökonomischen und ideellen Kontrollvariablen" (S. 226f.).

Das achte und letzte Kapitel unternimmt einen Streifzug durch postsowjetische Lebenswelten. Die Milieus und Communities seien demnach so vielfältig wie die Formen der Selbstidentifikationen: mit geschlossenen und informellen Netzwerken, dazu Trends zwischen Abschottung und Öffnung im Freundeskreis und der Partnerwahl, und schließlich mit einer wachsenden transkontinentalen Vernetzung im virtuellen Raum.

Unterm Strich

Sachlich, in einer klaren Sprache und mit Rücksicht auf Positionen und Empfindlichkeiten der beschriebenen Bevölkerungsgruppen legt Jannis Panagiotidis seine Ergebnisse dar. Die Studie dokumentiert, welche bisweilen integrationshinderlichen Auswirkungen unterschiedliche Aufnahmepraktiken genau eine Generation später für die jeweiligen Migrantengruppen haben können – und das, ohne sich auf die Nachfahren türkischer Gastarbeiter als Vergleichsgruppe zu stützen, sondern durch eine interne Ausdifferenzierung. So hat sich die im Umfeld von Interessenverbänden wiederholt geäußerte Befürchtung, dass die Analysekategorie des „postsowjetischen Migranten“ zu einer Nivellierung historisch-kultureller Unterschiede führe, nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Der Mehrwert dieses Buches, wie schon MEP Sergey Lagodinsky im Vorwort betont, besteht darin, die "selbstgewählte Sprachlosigkeit und aufoktroyierte Unsichtbarkeit der Gruppe der 'Postsowjetischen'" zu durchbrechen (S.12).

Denn dass diese Bevölkerungsgruppe keineswegs so homogen ist, wie sie auf den ersten Blick anmutet, ist zuletzt seit dem "Fall Lisa" (Januar2016) von Interessenvertretern, Wissenschaftlern und Politikern stets beteuert worden. Aktuelle Daten und Fakten, um die behauptete Heterogenität argumentativ zu stützen, liegen nun in diesem kompakten Grundlagenwerk vor.

Zukünftige Forschungsarbeiten können darauf aufbauen, indem sie beispielsweise die Lebenswelten und Wertvorstellungen postsowjetischer Migranten beleuchten; gerade in Bezug auf jüdische Kontingentflüchtlinge fiel bei der Lektüre wiederholt die dünne Datenlagen ins Auge. Eine weitere Forschungslücke bleibt vorerst die "mitgebrachte" bzw. bereits in der Bundesrepublik Deutschland geborene Generation postsowjetischer Migranten. Allerdings mehren sich derzeit allerlei Image-Kampagnen und „Graswurzelbewegungen“, deren Motivation, Selbstbild und Wirken in naher Zukunft eingehend untersucht werden sollte.[7]

Zugabe

Die Bilanz von Jannis Panagiotidis‘ sechsjährigen Forschungsarbeit ist beeindruckend, ebenso die Zahl betreuter Abschlussarbeiten. Zwar hatte der Historiker die Juniorprofessur formal noch bis Ende 2020 inne, doch wechselte er bereits zum 1. August an die Universität Wien. Von dort aus betreut er einen von vier Standorten des Forschungsverbunds "Ambivalenzen des Sowjetischen"[8].

Die dort entstehenden Arbeiten untersuchen das vermeintliche Paradox der gruppenkonstituierenden kollektiven Repressionserfahrung und der alltäglichen individuellen sowjetischen „Normalisierung“ – am Beispiel der deutschen und der jüdischen Minderheit in der Sowjetunion. Von den Erfahrungen und dem "Gepäck" anderer postsowjetischer Migranten, die in Panagiotidis' Darstellung nicht vorkamen, handelt etwa der erste Blogbeitrag auf der Internetseite des Forschungsverbunds.[9]

Postsowjetische Migration in Deutschland - Eine Einführung. Mit einem Vorwort von Sergey Lagodinsky - Jannis Panagiotidis  | BELTZ

[1] Für eine kompakte Darstellung vgl. Krieger, Viktor: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. Eine Geschichte der Russlanddeutschen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2017.

[2] Publikationsverzeichnis von Jannis Panagiotidis (Stand: 27.05.2021).

[3] Rezension von Jana Matthies (Universität Hamburg) zur darauf aufbauenden Monografie "The Unchosen Ones – Diaspora, Nation, and Migration in Israel and Germany" (01.10.2020).

[4] Vgl. Schmalz, Tatjana: Das Vermächtnis des Falls Lisa (23.02.2018).

[5] Vgl. Panagiotidis, Jannis: Postsowjetische Migranten in Deutschland – Perspektiven auf eine heterogene "Diaspora". In: APuZ "Fremd in der Heimat?" 67. Jahrgang,11-12/2017, S. 23-30, hier S. 23.

[6] Vgl. Beck, Volker: Wider die Ungleichbehandlung. Spätaussiedler und jüdische Zuwanderer im Renten- und Staatsbürgerschaftsrecht, in: OSTEUROPA, 69. Jahrgang, Heft 9-11, 2019, S. 133-165. Zitat aus dem Abstract (S. 133): "Dies ist nicht zu rechtfertigen. Es geht nicht nur um eine sozialpolitische Maßnahme zur Linderung der verbreiteten Altersarmut unter den aufgenommenen Juden. Es geht um eine geschichts- und identitätspolitische Korrektur: 2,9 Millionen sowjetische Juden wurden zwischen 1941 und 1945 von Deutschen ermordet, alle Überlebenden der Shoah haben daher ein Kriegsfolgenschicksal erlitten. Und: Die Kultur der aschkenasischen Juden und das bis weit ins 20. Jahrhundert von ihnen gesprochene Jiddische gehören zur deutschen Kulturgemeinschaft."

[7] Beispielsweise der von der LmDR Nordrhein-Westfalen geförderte X3-Podcast (Der erste Russlanddeutsche+und Postsowjet Podcast" oder das vom Zentrum für liberale Moderne geförderte Projekt O[S]TKLICK (Russlanddeutsche für Demokratie im Netz).

[8] URL: https://www.ambivalenzen.uni-goettingen.de/

[9] Aivazishvili-Gehne, Nino: Mein (Post-)Sowjetisches Gepäck. Eine autoethnographische Beobachtung (02.05.2021).

Beltz-Juventa
Weinheim
2020
ISBN:
978-3-7799-3913-9
Seiten:
246
20.00