Neuere deutschsprachige Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Russlanddeutschen sind Mangelware. Schon aus diesem Grund ist György Dalos‘ 2014 publizierte Monographie eine willkommene Neuerscheinung.[1]
So schreibt der Historiker Jannis Panagiotidis über ein Sachbuch, das im Nachgang des 250. Jubiläums des (zweiten) Einladungsmanifests von Zarin Katharina II. erschien. Das auf den 22. Juli 1763 (jul.) datierte Dokument, gefolgt von der Ansiedlung der ersten deutschstämmigen Kolonisten an der Wolga im Jahr 1764, gilt als Startpunkt der "russlanddeutschen" Geschichte.
Die Wolgaregion spielte auch später eine wichtige Rolle, etwa als Zentrum des kulturellen Schaffens [2] oder als Sehnsuchtsort nationalistischer Autonomiebestrebungen. Dies könnte der Grund sein, dass sie in der Geschichtsschreibung heraussticht, obwohl die Mehrheit der deutschrussischen Kolonisten in anderen Teilen des Russischen Reichs bzw. der Sowjetunion lebte. Wie Panagiotidis treffend bemerkt, reproduziert Dalos das "'wolgazentrierte' Geschichtsbild" nicht zuletzt aufgrund der "recht engen Literaturbasis", womit der Anspruch verfehlt wird, eine Geschichte "der" Russlanddeutschen zu schreiben. Überdies kritisiert Detlef Brandes – eine Koryphäe auf dem Gebiet der deutschen Geschichte im östlichen Europa – "die uninformierten Kapitel über die Zarenzeit"[3].
Unmittelbar nach der stilistisch zweifellos ansprechenden Darstellung des Schriftstellers György Dalos erschien eine Arbeit des russlanddeutschen Historikers Viktor Krieger, die bislang lediglich im russischsprachigen Raum rezensiert wurde.[4] So lobt Olga Litzenberger, inzwischen wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR)[5],neben dem umfangreichen Anhang von Kriegers Arbeit vor allem die Strukturierung samt überzeugender Argumentation.
Anhand von Statistiken und Selbstzeugnissen der Bevölkerungsgruppe versucht er nachzuweisen, dass, erstens, russlanddeutsche Siedler "im multinationalen und -konfessionellen Zarenreich eine der am besten integrierten und loyalsten Volksgruppen" waren (S. 9), dass sie, zweitens, unter allen Völkern und Minderheiten der einstigen UdSSR diejenigen waren, "die mit Abstand am meisten unter der Sowjetherrschaft gelitten haben" (S. 12), und dass, drittens, die "ausgebliebene politische, rechtliche, materielle und nicht zuletzt moralische Wiedergutmachung nach 1955 […] den Grundstein für den immer tiefer werdenden Ablösungsprozess [legte], der sie von der UdSSR bzw. von Russland weg- und zur Bundesrepublik bzw. zu Deutschland hinführte" (S. 13).
Gerade die zweite These zum unverhältnismäßigen Leiden der Sowjetdeutschen ist kontrovers aufgefasst und wiederholt kritischen Überprüfungen unterzogen worden.[6] Unstrittig dürfte aber sein, dass "[d]ie Bürger russlanddeutscher Herkunft […] in Deutschland die größte Bevölkerungsgruppe mit der längsten – knapp über 70 Jahre währenden – Diktaturerfahrung" sind (S. 15).
Ähnlich wie bei György Dalos ist auch Viktor Kriegers pointierte Darstellung zweigeteilt in die Zeit vor und nach der Oktoberrevolution 1917. Das Kapitel "Deutsche Siedler im Russischen Reich" beginnt mit einer Einführung in das dynastische System Russlands, in dessen Kontext die Kolonisations- bzw. Peuplierungspolitik stattfand und wo die deutschen Siedler – nicht zuletzt aufgrund ihres privilegierten Status – ihr wirtschaftliches Innovationspotenzial entfalteten. Am Beispiel der Wolgadeutschen zeichnet Krieger die nationalkulturelle und politische Mobilisierung deutschstämmiger Untertanen im ausgehenden Zarenreich nach.[7] Überraschend war für mich, dass die deutschrussischen Siedlerkolonisten eine eigene (nicht-schlagende) Studentenverbindung hatten, und zwar an der Universität Dorpat/Jurjew (heute: Tartu) in Estland (S. 56f.).[8] Die bestehende Ordnung kollabierte schließlich mit dem Ersten Weltkrieg und den beiden russischen Revolutionen von 1917.
Auch das nächste Kapitel "Die Nachkommen der einstigen Kolonisten im Sowjetstaat" beginnt mit einer Einführung in das Gesellschaftssystem der Sowjetunion. Eine der bedeutendsten Umwälzungen in der Zwischenkriegszeit war, dass die Deutschen als eine der ersten Minderheiten in den Genuss der von den Bolschewiki versprochenen Autonomierechte kamen. Dabei nahm die propagandistische Wirkung auf die Revolutionsanwärter Deutschland und Österreich, so meine Erkenntnis, nur eine nachgeordnete Position ein. Primär ging es darum, die "Kornkammer", als die die von Wolgadeutschen bewirtschafteten Landstriche galten, im Russischen Bürgerkrieg "für die Versorgung der beiden Revolutionszentren Moskau und Petrograd (ab 1924 Leningrad) [zu] verwenden und diese Kornkammer vor Requisitionen und Plünderungen der entsprechenden Gouvernementssowjets oder vorbeiziehender Truppen [zu] schützen“ (S. 98f.). Dass das Territorium auch später nur auf dem Papier eine nachträglich glorifizierte "Autonomie" war, belegt Krieger anhand der bereits um 1930 einsetzenden "Säuberungen" sowie der wiederkehrenden Ausreisebewegungen.
Die Deportation, das Arbeitslager und die Sondersiedlung von Deutschen in der UdSSR nach 1941 behandelt Krieger in angemessenem Umfang. Der Deportationserlass vom 28. August 1941 gilt, wie die Soziologin Gabriele Rosenthal nachweisen konnte, als "der" Wendepunkt in zahlreichen russlanddeutschen Familiengeschichten, obwohl sie in Wahrheit deutlich ambivalenter und nicht selten sogar schambehaftet sind.[9] Zwar markiert Viktor Krieger das Datum nicht als Dreh- und Angelpunkt der russlanddeutschen Geschichte, doch unterstreicht er, dass die deutsche Minderheit nach dem Überfall von NS-Deutschland auf die Sowjetunion unabhängig von individueller Schuld kollektiv der Kollaboration verdächtigt wurde: "die sowjetischen Medien und Behörden [unterschieden] nicht zwischen Sowjetdeutschen und der angreifenden Wehrmacht" (S. 125). Damit vereinte sie über Herkunfts-, Konfessions- und Dialektgrenzen hinweg dasselbe Kriegsfolgenschicksal, das – gemeinsam mit der anschließenden jahrzehntelangen strukturellen Diskriminierung aufgrund der Ethnie[10] – der eigentliche Grund für eine vermeintliche "ethnische Privilegierung" (S. 205) bei der Einreise und Einbürgerung in der Bundesrepublik Deutschland sei.[11]
György Dalos konstatiert in seiner Darstellung, dass die Zeit nach dem Exodus aus der ehemaligen Sowjetunion allenfalls eine "Nachgeschichte" der Russlanddeutschen sei. Obwohl diese Periode sich nun allmählich der Geschichtswissenschaft öffnet, räumt Viktor Krieger ihr im Anschluss an die beiden Hauptkapitel genügend Raum ein. Im Kapitel "Nach der Auflösung der UdSSR" geht es primär um die Frage der ausgebliebenen (territorialen) Rehabilitierung in Gestalt einer wiederhergestellten Wolgadeutschen Republik. Er kritisiert, dass seinerzeit keine Anerkennung von kollektiven Minderheitenrechten erfolgte und auch die russlanddeutsche Leidensgeschichte in Russlands kollektivem Gedächtnis fehle, sodass subtile Formen der Germanophobie infolge des Kriegskultus anhalten (S.185). Das Schlusskapitel "Russlanddeutsche im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik" unternimmt einen Parforceritt durch die Phasen der Selbstorganisation der Deutschen aus Russland außerhalb der Herkunftsgebiete.
Wie von der bislang einzigen Rezensentin Olga Litzenberger festgehalten, besticht Viktor Kriegers Arbeit außer mit seinen kernigen, bisweilen provokanten Thesen auch mit einem ausführlichen Anhang. Ein Glossar sowie gleich drei Zeittafeln zur 250-jährigen russlanddeutschen Geschichte und Kultur (politisch-historische Ereignisse, kulturgeschichtliche Ereignisse, Russlanddeutsche und das Deutsche Reich bzw. die BRD) runden die Darstellung ab. Auch der Abschluss jedes Teilkapitels mit einem knappen Literaturverzeichnis ist als Service am Nachwuchswissenschaftler wie auch am interessierten Laien positiv hervorzuheben.
Freilich sind nach Kriegers Werk diverse Arbeiten erschienen, um die angedeuteten Forschungs- und Wissenslücken zu füllen, doch bleibt es bis auf Weiteres die einzig aktuelle Gesamtdarstellung der russlanddeutschen Geschichte im Russischen Reich und in der Sowjetunion. Gemeinsam mit Jannis Panagiotidis‘ Einführung in die "Postsowjetische Migration in Deutschland" (2021) handelt es sich um zwei Grundlagenwerke, die in keinem gut sortierten Bücherregal zur Geschichte der Deutschen im östlichen Europa fehlen sollten.
[1] Jannis Panagiotidis über: Dalos, György: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. München: Beck, 2014 03.07.2021).
[2] Vgl. Korn, Robert: Stimmen aus dem Abgrund. Beiträge zur Literaturgeschichte der Wolgadeutschen. Augsburg: Waldemar Weber Verlag, 2021. 483 S. (Band 1), 442 S.(Band 2).
[3] Detlef Brandes über: Dalos, György: Geschichte der Russlanddeutschen (03.07.2021).
[4] Vgl. Olga Litzenberger über: Krieger, Viktor: Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler (03.07.2021).
[5] Vgl. Prof. Dr. Olga Litzenberger (03.07.2021).
[6] Vgl. Kindler, Robert: Sowjetische Menschen. Russlanddeutsche zwischen Integration und Emigration. In: Osteuropa 9-10/2017, S.137–151; Beck, Volker: Wider die Ungleichbehandlung der Rückkehrer. Spätaussiedler und jüdische Zuwanderer im Renten- und Staatsbürgerschaftsrecht. In: Osteuropa 9-11/2019, S.133-165.
[7] Über die Etablierung, Auslöschung und "Wiedergeburt" einer kulturellen Elite veröffentlichte er bereits 2014 einen kurzweiligen, jedoch (aufgrund des Mediums?) recht "patriotischen" Aufsatz. Vgl. Krieger, Viktor: Vom Schulmeister zum Nobelpreisträger: Geistige und intellektuelle Bestrebungen unter der deutschen Minderheit. In: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. (Hrsg.): Heimatbuch 2014. Stuttgart: LmDR e. V., 2014. S. 71-132.
[8] Genaueres vgl. Krieger, Viktor: Teutonia Dorpat, die einzige Korporation von Studenten kolonistischer Herkunft im Russischen Reich. In: Volk auf dem Weg 8-9/2020, S. 49-50.
[9] Vgl. Rosenthal, Gabriele; Stephan, Viola; Radenbach, Niklas: Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familien von "Russlanddeutschen" ihre Geschichte erzählen. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2011.
[10] J. Otto Pohl vergleicht deren Diskriminierung gar mit der Apartheid in Südafrika, vgl. Pohl, Otto J.: Soviet Apartheid: Stalin’s Ethnic Deportations, Special Settlement Restrictions, and the Labor Army: The Case of the Ethnic Germans in the USSR. In: Human Rights Revue 13/2012, S. 205–224: DOI 10.1007/s12142-011-0215-x.
[11] Siehe auch Panagiotidis, Jannis: Die Schäferhündchen-Frage (03.07.2021).