Wer sich mit Ostpreußen und Königsberg beschäftigt, wird irgendwann unweigerlich auf den Namen Hugo Linck stoßen. Hugo Linck erlangte insbesondere dadurch Bekanntheit, dass er als Pfarrer trotz der widrigen Lebensumstände im sowjetisch besetzten Königsberg (ab 1946: Kaliningrad), die von Gewalt, Kälte, Hunger und Krankheiten geprägt waren, blieb, obwohl er 1945 die Möglichkeit gehabt hatte zu flüchten. Sein Pflicht- und Ehrgefühl ließ ihn seine Gemeinde weiterhin betreuen und sogar gefährliche Wege in 30 Kilometer entfernt liegende Ortschaften in Kauf nehmen. In den 1950er und 1960er Jahren veröffentlichte Linck mehrere Bücher, darunter „Kirchenkampf in Ostpreußen“, das eine aufschlussreiche Quelle zum kirchlichen Widerstand gegen das NS-Regime darstellt. Nun hat seine Enkelin Henriette Piper eine Biographie über ihren Großvater vorgelegt.
Das Buch ist in mehrere Kapitel geteilt. Nach einem Prolog folgen „Der Weg ins Pfarrhaus“, „Bekenntniszeit“, „Kaliningrader Jahre“, „Im Ungewissen“ und „Das zweite Leben“. Ein Epilog und ein Nachwort von Christopher Spatz runden das Werk ab. Piper beschreibt zunächst Hugo Lincks frühe berufliche und private Jahre, etwa wie er Pfarrer wurde, seine Frau Maria aus Plön kennenlernte und als Soldat im Ersten Weltkrieg in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Diese Erfahrung verschaffte ihm 1945, als Königsberg sowjetisch besetzt wurde, den Vorteil, dass er sich zumindest bruchstückhaft auf Russisch verständigen konnte. Nach seiner Kriegsgefangenschaft kehrte er nach Königsberg zurück, wo ihm nur wenige ruhige Jahre als Gemeindepfarrer der Löbenichtschen Gemeinde vergönnt waren.
Im weiteren Verlauf schildert Piper Lincks Weg in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und fragt nach der Rolle, die er im Kirchenkampf spielte. Er gehörte zur Bekennenden Kirche, die in Opposition zum NS-Regime stand und sich gegen staatliche Eingriffe in Kirchenangelegenheiten zur Wehr setzte. Pfarrer Linck predigte unter Gefahr der Denunziation weiterhin und unbeirrt das Evangelium im Sinne einer allumfassenden Humanität und gegen den unter den Nationalsozialisten vorherrschenden Führerkult. Er wurde mindestens 25 Mal von der Gestapo vorgeladen und oft tagelang festgehalten. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs erlebte Linck nicht nur die Zerstörung Königsbergs, sondern musste auch den Tod zweier Söhne, die gefallen waren, verkraften.
Henriette Pipers Buch zeichnet sich insbesondere durch die Verwendung von erhaltenen Briefkorrespondenzen aus, die sie geschickt in den Fließtext einarbeitet. Man bekommt hierbei Einblicke in die Gefühlswelt der Familie – eine Perspektive, die in den Büchern ihres Großvaters, die sehr sachlich und frei von persönlichen Empfindungen anmuten, fehlt. (Aber gerade das macht Hugo Lincks Bücher zu wertvollen Quellen.)
Im Kapitel „Kaliningrader Jahre“ behandelt Piper die schwere Zeit im sowjetisch besetzten Königsberg, das seit 1946 Kaliningrad heißt. Ihre Ausführungen hinterlassen beim Leser beklemmende Eindrücke angesichts des Hungers, der Krankheiten und des Sterbens in der zerstörten Stadt. Obendrein waren die Deutschen der Siegerwillkür der Besatzer schutzlos ausgesetzt. Das hindert Hugo Linck jedoch nicht daran, für seine Gemeinde da zu sein. Nach wie vor hält er Beerdigungen ab und leistet seelsorgerische Dienste. Mitunter macht er sich hierzu auf den gefährlichen Weg nach Gilge, das etwa 30 Kilometer von Königsberg/Kaliningrad entfernt liegt. Zwei andere Pfarrer, die sich ebenfalls in eine Nachbargemeinde von Königsberg begeben hatten, sind auf dem Heimweg verschwunden. Vermutlich sind sie Wegelagerern zum Opfer gefallen. Sie sind nie zurückgekehrt; ihre Leichen wurden nie gefunden.
Das Buch berichtet im Anschluss über das Bangen und Hoffen der Lincks auf den Abtransport in eine der Besatzungszonen, das sich zunächst aber immer wieder zerschlägt, bis es 1948 endlich so weit ist. Auch hier erfährt der Leser aus Briefen, wie sehr diese Zeit an den Lincks gezehrt hat. Sie mussten nicht nur die Ungewissheit über das Schicksal ihres zweiten Sohnes aushalten, der als Soldat in der Sowjetunion war und als vermisst galt. Auch ihr eigenes weiteres Schicksal war ungewiss: Würden sie jemals aus Kaliningrad herauskommen? Würden sie jemals ihre überlebenden Kinder, die in den Besatzungszonen angekommen waren, und ihre restliche Familie wiedersehen? Und wenn ja, wann? Dieser Teil des Buches schildert eindrücklich den täglichen Überlebenskampf im besetzten Kaliningrad. Dabei kommt auch die bindende Kraft der Religion zum Ausdruck. Die Mitglieder der Gemeinde, die Hugo Linck noch betreute, halfen sich in dieser schweren Lage gegenseitig.
Trotz aller Differenzen zwischen Sowjetsoldaten und Deutschen führt Piper aber auch erfreuliche Begegnungen an. So erfährt der Leser, dass Hugo Linck bei einem Hausbesuch versehentlich in ein falsches Gebäude gegangen war, in dem er auf eine Gruppe sowjetischer Soldaten stieß; sein eigentliches Ziel war jedoch das Nachbarhaus. Die Soldaten bezichtigten ihn, dass er etwas habe stehlen wollen. Linck konnte sich nur bruchstückhaft auf Russisch verständigen. Als er aber klarmachte, dass er Pfarrer sei, lediglich einen Hausbesuch machen wolle und sich in der Tür geirrt habe, wurde der Anführer der Soldatengruppe plötzlich freundlich und verabschiedet ihn höflich – ein Zeichen dafür, dass selbst in der offiziell als atheistisch geltenden Sowjetunion noch immer eine Volksfrömmigkeit und ein tiefer Respekt gegenüber Geistlichen vorherrschte, die Hugo Linck in dieser Situation retteten.
Die Kaliningrader Jahre waren somit nicht nur von Leid, sondern auch von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe geprägt. Die Familie Linck hat es noch relativ gut getroffen: zum einen, weil sie in einem Pfarrhaus in Liep (stadtauswärts hinter dem Königstor) wohnte, zum anderen, weil ihr Status als Pfarrersfamilie ihr einen gewissen Schutz garantierte. Verglichen mit anderen Berichten, etwa Lucy Falks „Ich blieb in Königsberg“, in dem die Autorin erzählt, dass sie innerhalb des besetzten Königsbergs beinahe monatlich ihre Wohnung wechseln musste, bleibt festzuhalten, dass die Lincks sehr viel Glück hatten.
1948 erfolgt der ersehnte Abtransport. Auch wenn Hugo Linck geborener Ostpreuße ist und sich damals, als er seine Frau Maria aus Plön heiratete, dafür einsetzte, eine Pfarrstelle in Ostpreußen zu erhalten, so ist ihm doch seine Heimat durch die sowjetische Besatzung – wie so vielen noch dort lebenden Ostpreußen – fremd geworden. Die Flucht nach vorne erschien als einziger Weg aus dem Elend Kaliningrads. Die Stationen führten über Pasewalk und das Quarantänelager Meiningen, bis Hugo Linck und seine Ehefrau in Hamburg, nach dreieinhalb Jahren, ihre Kinder wiedersehen konnten. In der Zwischenzeit wurde alles für Hugo Linck vorbereitet: Er kann als Pfarrer in der Gemeinde Hamburg-Harvestehude einen Neuanfang wagen.
Ab hier flacht die Spannungskurve des Buches ab. Der Leser weiß die Familie in Sicherheit. Es folgen diverse kirchenpolitische Auseinandersetzungen sowie Streitigkeiten über das Verfassen des Buches „Der Kirchenkampf in Ostpreußen“. Diese Episode ist durchaus interessant, da sie Aufschluss über die Entstehungsgeschichte des wohl bedeutendsten Buches von Hugo Linck gibt. Jedoch sind kleinere Rangeleien zwischen den Pfarrern, die geschildert werden, weniger von Interesse – hier wäre weniger tatsächlich mehr gewesen. Diese Auseinandersetzungen als weiteren „Kirchenkampf“ auszuweisen, mutet melodramatisch an, vor allem eingedenk der Tatsache, dass Pfarrer Linck in den Kirchenkämpfen gegen das NS-Regime und die sowjetischen Besatzer sein Leben riskiert hat. Diese Gefahr droht ihm in Hamburg in der Nachkriegszeit nicht mehr.
Insgesamt betrachtet ist dies aber lediglich ein kleines Manko in einem sehr spannend geschriebenen Buch. Da Henriette Piper Drehbuchautorin ist, besitzt sie ein Gespür dafür, wie man Geschichten fesselnd schreibt. Wer den Kirchenkampf von Linck gelesen hat, wird hier zwar viele Aspekte wiederfinden, die ihm aus diesem Buch bekannt vorkommen. Das Wertvolle an Henriette Pipers Buch aber sind die Briefe, persönlichen Notizen und Bilder, die das Werk ergänzen, Einblicke in das Seelenleben der Familie Linck und ihre Haltungsstärke geben.
Positiv hervorzuheben ist zudem, dass die Autorin keine Anklage erhebt. Auch steht nicht der Gottesglaube bzw. -begriff selbst im Vordergrund. Vielmehr zeigt Piper das Gottvertrauen und die innere Haltung von Hugo Linck und seiner Familie, die alles – ähnlich einer göttlichen Prüfung – erträgt, ohne zu klagen. Außerdem stilisiert sie ihren Großvater nicht zum Helden, sondern charakterisiert ihn auch als Menschen mit Fehlern und Schwächen. Dass Hugo Linck einst auf die falschen Versprechungen eines Gestapo-Polizisten hereinfiel und dadurch unwillentlich einen befreundeten Pfarrer verriet, verfolgte ihn sein Leben lang. (Der betreffende Pfarrer überlebte die Haft.)
Von Bedeutung und Interesse ist dieses Buch auch für all jene, die sich über Formen und Möglichkeiten des Widerstands im Dritten Reich informieren wollen. Vor allem verdeutlicht es, dass der Widerstand gegen des NS-Regime breit gefächert war und auch von einfachen, weitgehend unbekannten Personen ausging. Piper gelingt es, ein differenziertes Bild der sowjetischen Besatzungsmacht in Königsberg/Kaliningrad zu zeichnen, das Gewalt ebenso umfasst wie Mitmenschlichkeit. Alles in allem ein empfehlenswertes Buch.
Der letzte Pfarrer von Königsberg - be.bra verlag (bebraverlag.de)