Im November 2021 begab sich eine Gruppe junger Reisender nach Sankt Petersburg und Kaliningrad, dem früheren Königsberg, das als Heimatstadt Immanuel Kants gilt. Eingeladen hat sie die Gesellschaft FREUNDE KANTS UND KÖNIGSBERGs e. V. im Rahmen des Projekts „Kant Zukunftswerkstatt 2021“, das der Vorbereitung des 300. Geburtstages des Philosophen im Jahr 2024 dient. Die Gruppe machte Exkursionen zu verschiedenen Orten, die mit Kant in Verbindung stehen, darunter auch nach Groß Wohnsdorf.
Groß Wohnsdorf (heute russisch: Kurortnoje) liegt etwa 60 Kilometer entfernt von Königsberg. Kant kehrte hier oft bei seinem Schüler und Freund Friedrich Leopold Freiherr von Schrötter ein.
Die Freunde Kants starten ihre Tour in Kaliningrad. Von hier aus führt die Fahrt entlang des Pregel aus der Stadt hinaus. Üppiges Schilf säumt den Flusslauf, der archaisch und urtümlich anmutet und – anders als die meisten Flüsse in Deutschland – nicht domestiziert ist. Eindruck erwecken auch die vielen Alleen, die seit jeher charakteristisch für die Region Ostpreußen sind.
Diese malerische und beinahe unberührte Landschaft weckt ein Gefühl der Einsamkeit und Melancholie. Kein Wunder also, dass Kant hier beste Voraussetzungen fand, um über die Ewigkeit, den Kosmos und den menschlichen Platz im Universum zu sinnieren.
Schon Rosenkranz schrieb in seiner „Geschichte der Kant’schen Philosophie“ über die preußische Neigung zur Philosophie, die in direktem Zusammenhang mit der Landschaft gebracht wird:
„Preussen überhaupt ist ein schon von Natur zur Cultur des Gedankens berufenes Land. In einem schon sehr winterlichen Klima eine weite Ebene, hier und da von Hügelreihen durchzogen, von einer Menge von Landseen belebt, von mächtigen Strömen durchschnitten, von Haidekraut, Laub- und Nadelhölzern überwachsen, oder ganz und gar durch Sand und Geschiebe … an den trocken gelegten Meeresgrund erinnernd, fordert es gleichsam die Reflexion heraus. Ein Preusse, Copernicus, war es, welcher die Erde für unser Bewusstseyn in ihren rechten Himmelsort eingliederte. Ein Preusse, Kant, war es, der die alte Weltanschauung revolutioniren half und im Selbstbewusstseyn des Menschen die so lange ausserhalb gesuchte Sonne des Geistes auch für die Philosophie aufgehen liess.“[1]
Man fragt sich in Anbetracht einer solchen Landschaft, ob diese nicht auch in folgendem Kant-Zitat mitschwingt:
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“[2]
Die Gruppe fährt vorbei an brachliegenden Feldern und Kirchenruinen. Letztere dienten nachdem Zweiten Weltkrieg als Schuppen, Lagerhäuser oder Getreidespeicher und verfielen zusehends. Bei Regenwetter und kaltem Wind gelangt die Gruppe schließlich an ihr Ziel. An einer Einbuchtung der Landstraße macht der Bus halt. Noch verdecken zwei Erhebungen, was die Reisenden gleich zu sehen bekommen: zum einen das ehemalige Rittergut der Familie von Schrötter, bei der Kant des Öfteren einkehrte; zum anderen – neben dem Turm – die alte Ordensburg Groß Wohnsdorf, die zum Gut der Familie gehörte, mit der Kant gerne hier saß und Kaffee trank. Kants Schüler E. A. Ch. Wasianski schrieb in seinem 1804 veröffentlichten Buch “Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren”:
„Mit fast poetischer Malerei, die Kant sonst in seinen Erzählungen gerne vermied, schilderte er mir in der Folge das Vergnügen, welches ein schöner Sommermorgen in den frühern Jahren seines Lebens ihm auf einem Rittergute, in der dort befindlichen Gartenlaube an den hohen Ufern der Alle, bei einer Tasse Kaffee und einer Pfeife gemacht hatte. Er erinnerte sich dabei der Unterhaltung in der Gesellschaft des Hausherrn und des Generals von L., der sein guter Freund war. Alles war dem Greise so gegenwärtig, als wenn er jene Aussicht noch vor sich hätte, jene Gesellschaft noch genösse. Um ihn recht zu erheitern, durfte man nur zuweilen dem Gespräche eine Wendung auf diesen Gegenstand geben, so war er sogleich wieder heiter und froh.”[3]
Die Freunde Kants, die knapp 300 Jahre nach seiner Geburt nach Groß Wohnsdorf gereist sind, führt der Weg über eine schlammige Straße durch ein kleines hügeliges Waldstück, an dessen rechter Flanke die Alle fließt, die in der Weimarer Zeit aufgestaut wurde, um ein kleines Wasserkraftwerk anzutreiben. Der Weg macht einen leichten Anstieg. Zur linken Hand kann man das ehemalige Gutshaus der von Schrötters und den zugehörigen Pferdestall sehen. Die Bäume wachsen kräftig in den Himmel. Das Grün, das noch im November auf dem Waldboden blüht, ist von einer unbeschreiblichen Intensität, die man wohl nur hier sehen kann. Langsam wird hinter dem Hügel die Burg Groß Wohnsdorf sichtbar – oder vielmehr, was von ihr noch übrig ist.
Die Burg Groß Wohnsdorf besitzt eine bewegte Geschichte: Bevor die Deutschen Ritter in das Gebiet vordrangen, befand sich hier die pruzzische Festung Campostete. Der Orden errichtete Ende des 13. Jahrhunderts schließlich an Stelle der pruzzischen Festung eine Burg, um die Region zu erschließen und zu besiedeln. Zu seiner Strategie gehörte es, nach und nach in das Land vorzurücken und die Eroberungen mit einer befestigten Burg abzusichern. Um diese herum siedelte der Orden Bauern an, die das Land urbar machen und erschließen sollten.
Die Burg wurde in der Folgezeit von den Litauern zerstört, zunächst 1319 und ein zweites Mal 1347. Man errichtete sie 1384 als Wildhaus wieder. Erweiterungen folgten zuerst 1391 und schließlich zwischen 1590 und 1595.[4]
Wie bereits erwähnt, verbrachte Kant hier seine Zeit bei der Familie von Schrötter. Die von Schrötters waren eine alte zum Adel gehörende Familie. Deren 1743 geborener Sohn Freiherr Friedrich Leopold von Schrötter war ein enger Freund Kants, den er in seiner Zeit als junger Offizier kennengelernt hatte.[5] Der Turm, neben dem beide gerne gesessen haben sollen, steht zwar auch heute noch, allerdings als Ruine. Der Verfall der Burganlage setzte schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg ein, denn 1830 – knapp 30 Jahre nach Kants Tod – brannte die Burganalage aus. Zwischen 1868 und 1869 nutzten Handwerker das Baumaterial der Vorburg, um das Herrenhaus der Familie von Schrötter zu errichten, das der Architekt Friedrich Gilly entworfen hat. Dadurch zerfiel die Burg zusehends. Von der einstigen Ordensburg sind heute nur noch der Torturm und einige Fragmente der Ummauerung erhalten.[6]
Inzwischen steht die Reisegruppe vor den Resten des Turmes, blickt auf den ehemaligen Burghof und die noch vorhandenen Mauern, die aussehen, als könnten sie jeden Moment zusammenstürzen. Die Freunde Kants treffen Wladimir Sozinow, einen sympathischen hochgewachsenen und kräftigen Mann mittleren Alters, der der Pächter der Ruine ist. Besitzer der Anlage ist die russisch-orthodoxe Kirche, da der Staat ihr durch ein Restitutionsgesetz aus dem Jahr 2010 sämtliche sakrale Gebäude (mit wenigen Ausnahmen) übereignete. Wladimir wohnt mit seiner Frau ein Stück weiter Richtung Hang in einem kleinen Häuschen, das sie sich mit ihrem Hund und den Katzenteilen. Er ist ein wahrer Idealist.
Seine Vision ist es, den Turm wiederaufzubauen. Da es sich bei den Zwischenböden um Holzkonstruktionen handelt, wäre es ein Leichtes, die einzelnen Ebenen wiederherzustellen. Auch für das Treppenhausproblem hat er eine Lösung: Er will anhand der alten Pläne das Treppenhaus wieder aufmauern und den Turm damit zugänglich machen. Nutzen will er das Gebäude als Museum. Im untersten Stockwerk plant er, die Geschichte des Deutschen Ritterordens zu erzählen und in den oberen Etagen will er eine Ausstellung über die von Schrötters und Kantkonzipieren. Doch im Augenblick tut Wladimir alles, um das Bauwerk vor dem weiteren Verfall zu schützen. Viel mehr kann er auch nicht machen, da das Denkmalamt ihm bisher keine Genehmigung für den Weiterausbau ausgestellt hat.
Wladimir hat aber schon Sponsoren und Unterstützer gefunden. Viele Menschen und Betriebe der Region haben angeboten, ihm die erforderlichen Baustoffe zu einem günstigen Preis anzubieten. Handwerker aus der Region haben zugesagt, für geringes Honorar an dem Projekt mitzuwirken. Das größte Problem ist ein behördlicher Teufelskreis: Das Denkmalamt verlangt einen Investor, bevor es Wladimir eine Genehmigung zu möglichen Ausbauplänen geben kann. Im Gegenzug will ein Investor aber grünes Licht vom Denkmalamt haben.
Die Reisegruppe der Kant Zukunftswerkstatt ist zu Wladimir gekommen, um mit ihm über das Projekt zu sprechen. Wladimir bittet den Verein der Freunde Kants, sein Vorhaben bei der Denkmalbehörde zu unterstützen. Eines ist klar: Groß Wohnsdorf ist nicht nur ein Kant-Ort, sondern auch ein Zeugnis des Landesausbaus durch den Deutschen Orden und zugleich ein architektonisches Denkmal. Wladimir möchte dieses Erbe bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Auch der Verfasser dieses Artikels findet dieses Vorhaben unterstützenwert und würde sich freuen, wenn sich Sponsoren für dieses Projekt finden ließen und es weiter förderten. Idealisten wie Wladimir ist es zu verdanken, wenn das kulturelle Erbe im ehemaligen Ostpreußen, der heutigen russischen Oblast Kaliningrad, erhalten werden kann. Die Ruinen in Groß Wohnsdorf sind nicht bloß ein ausschließlich deutsches oder russisches Erbe; sie sind ein europäisches Erbe und in Verbindung mit Immanuel Kant ein Erbe der Menschheit.
[1] Karl Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie, in: Immanuel Kants Sämmtliche Werke. Hg. Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert. Zwölfter Theil, Leipzig 1840, S. 98f.
[2] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft
[3] E. A. Ch. Wasianski: Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. S. 49.
[4] Vgl. Dehio. Handbuch der Kunstdenkmäler West- und Ostpreußen. S. 235f.
[5] Vgl. Bruno Schumacher: Geschichte Ost- und Westpreußens. S. 227.
[6] Vgl. Dehio. Handbuch der Kunstdenkmäler West- und Ostpreußen. S. 235f.