Vom 16. bis 18. Juli 2021 konnte die Tagung „Flucht, Vertreibung, Neuanfang. Alte Geschichte(n) neu erzählt“ des BdV-Landesverbandes Hessen e. V. nach pandemiebedingten Einschränkungen im Wiesbadener Wilhelm-Kempf-Haus mit persönlicher Teilnahme stattfinden. Doch auch digitale Elemente wurden passend zur Thematik in das Programm aufgenommen.
In einem Zusammenspiel aus Impulsvorträgen, Workshops und einer abendlichen Autorenlesung näherten sich die Teilnehmenden wissenschaftlich, praktisch und kreativ den Themen Oral History und Storytelling an. Wie modernes, multimediales Erzählen aus Erinnerungen kollektive Geschichte(n) entstehen lässt, wurde an drei Tagen aktiv erarbeitet. Dabei stand die Geschichte der Deutschen aus dem östlichen Europa und den damaligen Sowjetstaaten im Vordergrund. Dies stieß auf breites Interesse bei den Teilnehmenden, deren Kreis von der Zeitzeugengeneration selbst bis hin zu Nachfahren von Vertriebenen, Studierenden und jungen Erwachsenen reichte.
Zur Tagungseröffnung am Freitagnachmittag unterstrich Dr. Stefan Heck, Staatssekretär im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport, in seinen persönlichen Grußworten, dass Gedenk- und Kulturarbeit für die hessische Landesregierung auch 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein zentrales Anliegen sei. „Der Bund der Vertriebenen in Hessen leistet unter anderem mit Tagungen wie diesen hierfür einen herausragenden Beitrag“, betonte Heck.
Wilhelm Beer, stellvertretender Vorsitzender des BdV-Landesverbandes Hessen e. V., knüpfte an diese Bedeutung der Verbandsarbeit an und begrüßte die Gäste dankend im Namen des Landesverbandes. Agnes Maria Brügging-Lazar vom Kulturreferat des BdV Hessen führte in einer audiovisuellen Präsentation durch die aktuelle und künftige Veranstaltungsvielfalt des Kulturreferats. Diese bedient sich bereits zahlreicher Formen multi- und crossmedialen Storytellings, so beispielsweise mit digitalen Ausstellungsformaten und dem Podcast-Projekt CULTURE TO GO.
Der weitere Nachmittag legte in Vorträgen Impulse für die Workshoparbeit am darauffolgenden Samstag: So gewährte die freie Journalistin, Autorin und Kulturschaffende Katharina Martin-Virolainen Einblicke in interkulturelle und crossmediale Projekte und erschloss in Vertretung für die Autorin, Heimerzieherin und „Terre des Femmes“-Jugendbotschafterin Julia Kling das Thema transgenerationale Traumaweitergabe. Dr. Sarah Scholl-Schneider, Kulturwissenschaftlerin und stellv. Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz, legte Chancen, Herausforderungen und Perspektiven von Oral History beim Thema Vertreibung dar.
Den Abend beschloss nach persönlichen Worten des Vorsitzenden des Landesverbandes Hessen e.V., Siegbert Ortmann, eine künstlerische Darbietung: Der in Wien ansässige Autor und Dramatiker Thomas Perle las aus seinem 2018 erschienenen Prosaband „wir gingen weil alle gingen“ und bot einen Vorgeschmack auf sein Stück „karpatenflecken“, das im Dezember 2021 im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt und zu seinen weiteren Stationen das Burgtheater Wien sowie das Staatstheater Nürnberg zählen wird.
„Zwischen DNA und Digitalisierung“ bewegte sich der Vortrag des Geschichtsstudenten der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Peter Aifeld am Samstagmorgen. Selbst digital zugeschaltet, führte er die Teilnehmenden in die Möglichkeiten privater Ahnenforschung im digitalen Zeitalter heran.
Im Anschluss konnten die Teilnehmenden die Vortragsimpulse vom Vortag in praktischer Workshoparbeit umsetzen. Die Vortragsrednerinnen standen nun als Workshopleitende zu drei Themen bereit. Am Sonntagvormittag teilten die Gruppen ihre Workshopergebnisse mit dem großen Plenum. Workshopteilnehmende berichten im Folgenden selbst über ihre Erfahrungen: Dr. Kathleen Beger sagt über den Workshop „Storytelling“ mit Katharina Martin-Virolainen:
„Im ersten Teil des Workshops hat Katharina Martin-Virolainen die Teilnehmenden mit den theoretischen Grundlagen für gutes Storytelling vertraut gemacht. In einem ersten Schritt erläuterte sie der Gruppe zunächst die Bedeutung des sogenannten „4-E-Prinzips“ (Erinnern, Erzählen, Erläutern, Emotionen) und der Grundfragen (Was wird erzählt? Wer erzählt? Wie wird erzählt? Warum, wann und wo wird erzählt?), die das Gerüst jeder historischen Erzählung bilden. Anschließend vermittelte sie Wissen zu Formaten und Methoden, darunter zu Blog und Vlog, Stories und Postings, Podcasts und digitalen Ausstellungen. In einem zweiten Schritt erfuhren die Teilnehmenden von Katharina Martin-Virolainen, wie sie von der Idee zum Ergebnis gelangen, angefangen bei den Vorbereitungen über die Produktion zur Endproduktion. So ist das A und O einer jeden Story ein gut durchdachtes Skript. Für die Produktion sollten schließlich genügend Zeit und die richtige Technik eingeplant, Störfaktoren eliminiert sowie Ton-, Bild- und Lichttests durchgeführt werden. In der Endproduktion wird dann das Material gesichtet und fertig bearbeitet, sodass es online gehen kann."
"Nachdem der theoretische Teil abgeschlossen war, machten sich die Teilnehmenden an die praktische Umsetzung ihrer Stories, angefangen bei der Erarbeitung eines Skripts bis zur Produktion ihrer Bilder und Videos. Hierbei hatten sich mehrere Gruppen gebildet. Eine erstellte eine Instagram-Story zur BdV-Tagung, mehrere andere produzierten jeweils einen Kurzfilm über eine Episode aus ihrer Familiengeschichte. Bei der Endproduktion war Katharina Martin-Virolainen behilflich, sodass aus dem zusammengetragenen Material tolle Stories entstehen konnten.“
Julia Kling musste quarantänebedingt ihren Workshop „Diese Geschichte gehört mir! – Die Bedeutung von Transgenerationalem Trauma für die Entwicklung der eigenen Identität“ kurzfristig in einer Videokonferenz durchführen. Marta Mainka berichtet zu den Inhalten:
„Die Referentin Julia Kling führte die Teilnehmenden mit einem Vortrag ein, der einen großen und vielfältigen Einblick verschafft hat. Traumata prägen den Menschen. Das Sprechen über Verdrängtes und Unausgesprochenes ist der erste Schritt zur Aufarbeitung. Im nächsten Teil hatten die Teilnehmenden den Auftrag, sich zu überlegen, wie sie ein solches erstes Gespräch mit einer betroffenen Person führen würden und was sie beachten würden. Der letzte Teil war ein kreativer und sehr persönlicher. Die Teilnehmenden erstellten einen Lebensweg mit wichtigen Stationen, die für jede:n prägend waren. Anschließend sollte anhand des Weges eine eigene Geschichte/ ein eigener Text geschrieben werden. Dabei entstanden sehr unterschiedliche, aber persönliche Texte."
"Es war ein gelungener Workshop mit einer sehr kompetenten und empathischen Referentin, die es trotz VK geschafft hat, eine sehr angenehme und persönliche/vertraute Atmosphäre zu erzeugen. Eine ausgewogene Mischung aus Wissen und Persönlichem, die für alle Teilnehmenden ein Zugewinn war."
Dr. Sarah Scholl-Schneider leitete den Workshop „Geschichte(n) erzählen – Zeitzeugeninterviews professionell führen“ gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin Maria Adam, M.A. Patrick Polling fasst die Workshoparbeit zusammen:
"Nach kurzer gemeinsamer Absprache starteten die zwei Leiterinnen den Workshop, wie geplant, interaktiv. Von der Planung über die Durchführung und Aufbereitung bis hin zur Analyse wurde ein gesamter Interviewzyklus mit Hilfe multimedialen Materials, in Form kurzer Erklärvideos, vorgestellt und gemeinsam mit den Mitwirkenden erarbeitet."
"Um das neu erworbene Wissen auch in die Praxis umzusetzen, stand den Anwesenden ein sudetendeutscher Zeitzeuge zu Verfügung, mit dem ein Interview vorbereitet und durchgeführt werden sollte. Eine der Teilnehmerinnen meldete sich freiwillig, das Interview mit Herrn Siegbert Ortmann, ehemaliger Abgeordneter des hessischen Landtages und aktueller Vorsitzender des BdV Hessen, durchzuführen. Etwas über eine Stunde berichtete Herr Ortmann aus seinem Leben, von Kindheit über Vertreibung bis zu seinem Wirken in Deutschland. Im Nachgang wurde das Interview, welches von den anderen Mitwirkenden nur beobachtet wurde, analysiert und aufgearbeitet. Ein informativer und gut organisierter Workshop entlässt die Teilnehmer am Ende des Tages, sodass nun viele „professionelle“ Interviews mit Zeitzeugen geführt werden können."
Die Tagung war ein voller Erfolg: Generationenübergreifend, interaktiv und teils kreativ, teils wissenschaftlich bildete sie den Auftakt für innovative Tagungsformate und -themen in der Zukunft. Wir freuen uns darauf!
P.S.: Wer neugierig geworden ist, sich für die Arbeit des BdV-Landesverbandes Hessen interessiert und vielleicht sogar bei künftigen Projekten mitmachen möchte, darf sich gerne und jederzeit an das Kulturreferat wenden: kulturreferat@bdv-hessen.de