Südsüdöstlich der vermeintlich nicht-existenten Stadt Bielefeld, am nördlichen Rande des Teutoburger Waldes schlägt das Herz der russlanddeutschen Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland: in Detmold. Dort, in der einstigen Residenzstadt der Herren, Grafen und Fürsten zur Lippe unterhalten engagierte Russlanddeutsche seit Dezember 1986 einen christlichen Schulverein für den Kreis Lippe, informieren seit Juli 2011 über die Migrationserfahrungen ihrer „Volksgruppe“ im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte und produzieren seit November 2020 den Aussiedlerpodcast „Steppenkinder“. Vor allem die Folge, in der der Kultautor Wladimir Kaminer über die „Hermannisierung“ der Russlanddeutschen scherzt, weckte das Interesse unseres JUWOST-Mitglieds Tatjana Kohler.
Im Rahmen des Projekts „Experiment Heimat“ verbrachte Wladimir Kaminer im Frühsommer 2021 eine Woche in der Hochschul- und Behördenstadt Detmold.[1] Wie er in der 13. Folge des Aussiedlerpodcasts „Steppenkinder“ erläuterte, trieb ihn damals eine magische Mission um:
Ich habe einmal in einem russischen Magazin aus Kaliningrad über die sogenannte „Hermannisierung“ gelesen. […] Dass diese Menschen extra in der Nähe des Hermannsdenkmals angesiedelt wurden, damit dieser Prozess der Germanisierung beschleunigt werden kann. Ich möchte das am eigenen Leibausprobieren. Was strahlt dieser Hermann denn so aus? […]
Der Autor dieses Artikels meinte, bevor die Russlanddeutschen aus Kaliningrad nach Deutschland gefahren sind, lebten sie russische Traditionen, russische Sitten, russische Kultur. Auch wenn sie Deutsche heißen und das Land Deutschland heißt, würden sie sich niemals in einem anderen Land heimisch fühlen. Dann besucht er sie nach einigen Monaten und findet, je nachdem, wo sie angesiedelt wurden, Riesenunterschiede. Je näher zum Hermannsdenkmal, umso deutscher werden sie.[2]
Ganz gleich, ob man an die Hermannisierung glaubt oder ihr denselben Effekt zuschreibt wie sündhaft teuren Diätpillen: Die Arminiussäule ist ein (Achtung, Wortspiel) herausragender Erinnerungsort in der russlanddeutschen Kulturgeschichte. Allerdings ist dieser Umstand vielen Russlanddeutschen ebenso wenig bekannt wie vielen einheimischen Deutschen die Arminius-Sage.
Fairerweise wird hinzugefügt, dass letzterem unlängst ein wenig Abhilfe geschaffen wurde, mit der Netflix-Miniserie „Barbaren“ (2020)[3]: Es war im Jahr 9 nach Christi Geburt, als der Cheruskerfürst Arminius (von Martin Luther eingedeutscht zu „Hermann“, denn was war der Feldherr Arminius, wenn nicht ein Mann des Heeres?) gleich vier der zerstrittenen Germanenstämme einte, um mit List und Tücke ganze drei (!) römische Legionen in der Varusschlacht am Teutoburger Wald zu besiegen und so die Romanisierung der rechtsrheinischen Gebiete zu verhindern.
Zum 2000. Jubiläum dieses germanischen Gründungsmythos hat Herfried Münkler nachgezeichnet, wie dieser seit der Reformation wiederholt politisch instrumentalisiert und dessen rebellischer Geist in Gestalt einer knapp 27Meter hohen Statue (samt Sockel sogar fast 55 Meter[4]) gezähmt wurde:
Allein das Schwert ist sieben Meter lang und 11 Zentner schwer. Die Pose, in der Hermann es hält, ist die des siegreichen Herrschers, nicht die des Kämpfers. Rom ist kein apokalyptischer Gegenspieler, sondern bloß eine bezwungene Macht, was durch die römischen Legionsadler unter Hermanns rechtem Fuß symbolisiert wird.
Auf dem Kopf trägt Arminius einen gewaltigen Flügelhelm, der eher mittelalterlichen Rüstungen nachempfunden ist, im 19. Jahrhundert aber mit dem Bild des germanischen Kriegers assoziiert wurde. Die Adlerschwingen des Helms stehen für das Wappentier des Reichs, das sich den römischen Legionsadlern überlegen erwiesen hat.[5]
Münkler charakterisiert die seit der Denkmalseinweihung am16. August 1875 höchste Statue Deutschlands als einen „Ort der mentalen Demobilisierung“ (ebd.). Richtet man das Augenmerk jedoch primär auf die Entstehungsgeschichte des Hermannsdenkmals, so setzte der Architekt und Bildhauer Ernst von Bandel (1800-1876) weniger dem Cheruskerfürsten Arminius oder der geeinten deutschen Nation ein Denkmal, sondern den beharrlichen Visionären dieser Welt. Aus keinem anderen Grund ist das Hermannsdenkmal ein russlanddeutscher Erinnerungsort.
Seit mehreren Generationen lebte im zentralasiatischen Kirgisistan die russlandmennonitische Bauernfamilie Wedel. Dort erblickte im Hochsommer 1931 der kleine Jakob das Licht der Welt. In seinem jungen Leben hat er viel Leid erfahren müssen und war mit seinen vier Geschwistern oft auf sich gestellt gewesen. Denn erst wurden in den 1930ern mehrere Angehörige seiner streng gläubigen Familie von den stalinistischen Machthabern inhaftiert und hingerichtet.
Dann, während des „Großen Vaterländischen Kriegs“, wurden seine Eltern 1942 deportiert und zur mehrjährigen Zwangsarbeit in der sogenannten Trudarmee verpflichtet – nur die Mutter kehrte zurück. So war Jakob Wedel bereits mit zehn Jahren zur Kinderarbeit gezwungen, um sich und seine Geschwister mehr schlecht als recht zu ernähren.
Es dauerte, bis sich die Lebensbedingungen in der Nachkriegssowjetunion verbesserten – erst recht für religiöse sowie deutsche und damit per se „faschistische“ Minderheiten wie die Familie Wedel. So war Jakob Wedel über 30 Jahre alt, ehe er sein handwerkliches Talent als Tischler, Bildhauer und Schnitzer erstmals ausleben durfte. Wegen des Systemdrucks jedoch stellte er seine künstlerische Karriere zunehmend in den Dienst des sozialistischen Staates. Eine kurze Auszeit erlebte Jakob Wedel im Jahr 1979: Damals bereiste er das Land seiner Vorfahren und verneigte sich am Fuße des Hermannsdenkmals vor der Lebensleistung von Ernst von Bandel.
Rund 150 Jahre zuvor, bei der Grundsteinlegung zu seinem Lebenswerk im Jahr 1838, hatte Ernst von Bandel gesprochen, das Denkmal solle ein Mahnmal sein, „fremde Sitten, fremdes Recht und fremde Freiheit zu achten und eigene Sitte, eigenes Recht und eigene Freiheit zu wahren.“ Bedauerlicherweise dauerte die Bauphase wegen der heiklen politischen Situation, finanziellen Engpässen und des daraus folgenden Fachkräftemangels beinahe 40 Jahre! Doch als Perfektionist und handwerklich begabter Autodidakt hatte Ernst von Bandel wiederholt selbst mit angepackt und mit dem Familiensegen sogar mit seinem Privatvermögen ausgeholfen – bloß um seine seit Jugendtagen herangereifte Vision der Arminiussäule nicht unvollendet der Nachwelt zu hinterlassen.
Jakob Wedel indes sollte nach Detmold zurückkehren. Dank der gelockerten Ausreisebestimmungen im Zuge der Perestrojka kam er gleich 1988 als Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Befreit vom Systemdruckverarbeitete er seine Lebenserfahrungen zu vielfältigen Skulpturen und Plastiken, die mit der menschenverachtenden Stalindiktatur abrechnen.[6]
In dieser kreativen Schaffensphase wirkte auch der Eindruck vom erstmaligen Besuch des Hermannsdenkmals nach. So schuf Jakob Wedel schon bald nach seiner Aussiedlung eine Bronzefigur zu Ehren des ruhelosen Künstlers Ernst von Bandel. Sie zeigt von Bandel während seiner Präzisionsarbeit an Arminius‘ Faust samt Schwertgriff. Ohne Klinge erinnert diese an einen übergroßen Hammer und offenbart damit Jakob Wedels pazifistische Einstellung:
Nicht Kriege oder Siege überdauern die Menschheit (Herfried Münkler hat ja nachgezeichnet, dass die Erinnerung daran stets den Launen der Politik unterliegt), sondern nur ein von Menschenhand geschaffenes Kunstwerk gerät nimmer mehr in Vergessenheit!
Es dauerte bis 1964, ehe die „Sowjetdeutschen“ vom pauschalen Kollaborationsvorwurf mit NS-Deutschland rehabilitiert wurden, allerdings ohne das Recht auf Rückkehr in die historischen Siedlungsgebiete und ohne Aussicht zur Wiederherstellung der deutschen Autonomie an der Wolga oderandernorts. Letzteres sowie die Verfolgung von Glaubensgemeinschaften[7] führte in den 1970er-Jahren zur Gründung der illegalen „Vereinigung auswanderungswilliger Deutscher“ – mit Erfolg, denn vielen gelang die Ausreise nach Westdeutschland!
Zahlreiche dieser tief religiösen Aussiedler zog es nach Ostwestfalen: Lippe, Paderborn und ins sagenumwobene Bielefeld. Dort gründeten sie zunächst freie evangelische Gemeinden und initiierten schließlich 1986,gemeinsam mit einigen einheimischen Frei- und Landeskirchlern, in Detmold die Gründung einer privaten evangelischen Bekenntnisschule (nach GG Art. 7, Abs. 4& 5). Heute, 35 Jahre später, erzielen die Schüler der August-Hermann-Francke-Schulen im Kreis Lippe „überdurchschnittliche Leistungen“, was Peter Dück, Geschäftsführer des Trägervereins, unter anderem auf die Mehrheitsposition von Schülern aus russlanddeutschen Familien zurückführt:
[A]n Regelschulen [wird es] häufig als Defizit wahrgenommen, Russlanddeutscher zu sein. Ich selbst war als Kind anfangs der einzige Russlanddeutsche in meiner Klasse. Da hatte ich ein Minderwertigkeitsempfinden, weil ich nicht so gut Deutsch konnte. Das hängt einen auch emotional ganz schön ab. Die Identität war nicht klar. Wenn man eine größere Gruppe bildet, hat man ein größeres Verständnis füreinander. Das kann auch ein größeres Selbstbewusstsein und eine höhere Leistungsorientierung begünstigen.[8]
Diese Schulen als Mikrokosmos und der Kreis Lippe als Makrokosmos illustrieren, was Jannis Pannagiotidis jüngst über die räumliche Konzentration postsowjetischer Migranten herausfand. Demnach verhindere deren erhöhter Bevölkerungsanteil, dass sie sich in eine Minderheitenposition gedrängt fühlen und aus einer Art Selbsterhaltungstrieb heraus von der Umwelt abkapseln.[9]
Eine weitere, wenn nicht gar ergänzende Hypothese äußerte in der bereits zitierten 13. Folge des Aussiedlerpodcasts „Steppenkinder“ der Kulturreferent für Russlanddeutsche, Edwin Warkentin. Er bezieht sich explizit auf die Strahlkraft des germanischen Gründungsmythos:
Um als Aussiedler aufgenommen zu werden, mussten Russlanddeutsche zuerst beweisen, dass sie Deutsche sind; hier hat die Bevölkerung ihnen dies in Abrede gestellt. Und so kommt der eine oder der andere dazu, sich Zugänge zur Nation zu suchen und vielleicht auch über diese mythischen Helden.
Anders gesagt: Um die Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft (nach GG Art. 116) zu unterstreichen, wird die Anknüpfung an das lokale Mythenrepertoire gesucht. Einen solchen Zugang hat Jakob Wedel gefunden und reichte das Werkzeug spätestens mit seinem Ableben im Sommer 2014 an die nachfolgenden Generationen weiter. In diesem Sinne begrüßt das 2011eröffnete Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte seine Gäste mit der 12. Inschrift der Friedland-Gedächtnisstätte:
VÖLKER ENTSAGET DEM HASS – VERSÖHNT EUCH, DIENET DEM FRIEDEN – BAUT BRÜCKEN ZUEINANDER![10]
[1] Das Projekt „Experiment Heimat“ fand vom 25. Juni bis 1. Juli 2021 in Detmoldstatt: https://www.literaturbuero-owl.de/veranstaltung/experiment-heimat/.
[2] Vgl. Folge13: Wladimir Kaminer – Über die „Hermannisierung“ der Russlanddeutschen und das „Experiment Heimat“: https://www.russlanddeutsche.de/de/kulturreferat/projekte/steppenkinder-der-aussiedler-podcast/folge-13.html.
[3] „Die Zerrissenheit eines römischen Offiziers und die Loyalität gegenüber seinem Volksstamm führt zu einer historischen Auseinandersetzung.“ Barbaren – ein Netflix-Original (freigegeben ab 16 Jahren), online abrufbar unter: https://www.netflix.com/de/title/81024039 (zuletzt aufgerufen am 27.09.2021).
[4] Zum Innenleben des Hermannsdenkmals gibt es eine Folge der „Sendung mit der Maus“, online abrufbar unter: https://www.wdrmaus.de/filme/sachgeschichten/hermansdenkmal.php5 (zuletzt aufgerufen am 27.09.2021).
[5] Vgl. „Als die Römer frech geworden…“ Arminius und die Schlacht im Teutoburger Wald, in: Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. 5. Auflage. Hamburg 2018[2009], S.164-180, hier S. 178.
[6] Zu den Kunstwerken Jakob Wedels bietet das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte die permanente Sonderausstellung „KunstMenschSystem – Anpassung oder Widerstand?“ an, online abrufbar unter: https://www.russlanddeutsche.de/de/museum/ausstellungen/sonderausstellung-kunst-mensch-system.html (zuletzt aufgerufen am 27.06.2019).
Gemeinsam mit dem Schulgründer Otto Hertel und der Historikerin Katharina Neufeld, beide ebenfalls Russlanddeutsche, trug Jakob Wedel ab 1996 wesentlich zur Gründung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte bei, dessen Pforten in einem modernen Bau seit 2011 dauerhaft offenstehen.
[7] Vgl. Victor Dönninghaus, Andrej Savin: Unter dem wachsamen Auge des Staates. Religiöser Dissens der Russlanddeutschen in der Breschnew-Ära. Wiesbaden 2019.
[8] Vgl. "Ob die gleichen Schüler an öffentlichen Schulen dasselbe Leistungsniveau erreichen würden, weiß ich nicht." Ein Interview mit Peter Dück, Geschäftsführer des Christlichen Schulvereins Lippe e.V., online abrufbar unter: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/252540/interview-mit-peter-dueck (zuletzt aufgerufen am 27.09.2021)
[9] Vgl. Jannis Panagiotidis: Postsowjetische Migration in Deutschland. Eine Einführung. Weinheim Basel 2021, S. 224f. Siehe auch meine Rezension dazu, online abrufbarunter: https://www.juwost.de/rezensionen/postsowjetische-migrationen (zuletzt aufgerufen am 27.09.2021).
[10] Unter diesem Motto steht auch der Videowettbewerb 2021 der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen e.V. in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft e.V., online abrufbar unter: https://www.wir-brueckenbauer.de/ (zuletzt aufgerufen am 27.09.2021).